Frauen gebären auf dem Roma-Rad

Text: Ursula Siegrist

Das Kind im Arm Stunden nach der Geburt, hat Lydia Graf die Wehen vergessen, die heute einsetzten, um ihr Kind auf seine Reise in die Welt zu schicken. «Zuerst war da nur ein Haarbüschel», erinnert sie sich. «Ich konnte ihn mit der Hand spüren. Dann schaute ich hin. Der Kopf meines Kindes stiess vor ins Helle. Ich vergass alles um mich herum und fühlte plötzlich neue Kraft, presste ein letztes Mal und sah zu, wie mein Kind geboren wurde. Ich war völlig überwältigt.» Rund fünfzig Frauen haben seit dem letzten Sommer im Berner Engeriedspital auf dem Roma-Geburtsrad geboren. Lydia Graf ist eine von ihnen. «Ich würde auch beim nächsten Kind wieder das Geburtsrad wählen», ist die junge Mutter überzeugt. Denn das Geburtsrad erlaubt die aufrechte Haltung: «Nur deshalb konnte ich zusehen.»

Sehr geholfen hat Lydia Graf ausserdem, dass sie während des Pressens Hände und Füsse abstützen und ihren Körper voll einsetzen konnte. Das ist einer der Vorteile, für die das Roma-Rad steht: Die Frauen können aktiv mithelfen. Doch es bietet auch Entspannung: Während der Eröffnungswehen schaukelte Lydia Grafs Mann sie sanft hin und her: «Das wirkte beruhigend.» Am wichtigsten für sie war jedoch das Gefühl, selbst bestimmen zu können, wann sie stehen, sitzen oder kauern wollte.

Das alles ist auf dem Roma-Rad möglich. Dank einer Fernsteuerung können sowohl die Frauen selbst wie auch die Hebammen das Rad in die bequemste Position bringen. «Ich konnte auf dem Geburtsrad mein Kreuz, wo ich die Wehen am stärksten spürte, viel besser entspannen als auf dem Bett», sagt die junge Mutter. Wichtig für sie war aber auch die gelöste Atmosphäre. Wer Musik wünscht, nimmt seine eigenen Kassetten mit. Das Gebärzimmer selbst ist gemütlich eingerichtet – kein steriler, weissgekachelter Gebärsaal. Neben dem Geburtsrad steht ein Gebärbett. Ein Mayastuhl ist jederzeit griffbereit. «Bei uns entscheidet die werdende Mutter nach Rücksprache mit ihrem Arzt selbst, was ihr am meisten entspricht», sagt Schwester Monica Gäggeler, leitende Hebamme des Berner Engeriedspitals. «Und wer während der Geburt wechseln möchte, kann dies selbstverständlich tun.»

Futuristische Hollywood-Schaukel

In acht Kursabenden bereiten sich die werdenden Mütter auf ihre Geburt vor. An ein bis zwei Abenden sind auch ihre Partner eingeladen. Das Gebärzimmer wird besichtigt und das Roma-Geburtsrad vorgeführt Auf den ersten Blick erinnert es an eine futuristische Hollywood-Schaukel in dezentem Pastell. Die zwei geschwungenen Radkonstruktionen aus Stahl sind durch einen beweglichen Kunststoffsitz verbunden. Ein Kissen im Rücken und eine Nackenstütze können genau angepasst werden. Natürlich dürfen die Kursteilnehmerinnen die Schaukel probesitzen, während die Hebamme die Vorteile der aufrechten Geburtshaltung erklärt verbesserte Atmung, vermehrte Durchblutung von Beckenboden und Plazenta, Hilfe der Schwerkraft während der Austreibungsphase und die Möglichkeit, aktiv mitzuhelfen. Die Väter können während der Geburt auch hinter den Frauen stehen, ihnen das Kreuz massieren oder sie ganz einfach mal im Arm halten.

Laut Monica Gäggeler ist auch bei dieser Geburtsmethode Dammschutz jederzeit möglich. Ebenso können Saugglocke und Zange eingesetzt werden.

Alte Geburtsmethode

Bekannt ist die aufrechte Geburtshaltung schon seit Jahrtausenden. Felsmalereien in der Zentralsahara zeigen eine Geburt im Stehen, bei anderen Darstellungen sieht man die Frauen sitzen, knien, kauern oder sich an Seilen festhalten. Auch heute wird in vielen Kulturen in aufrechter Haltung geboren. An einer Studie über Geburten auf dem Roma-Rad arbeitet zurzeit das Kantonsspital Frauenfeld. Verena Geissbühler, leitende Ärztin der Frauenklinik: «Wir sammeln Material, doch für eine Auswertung ist es noch zu früh.»

Aufrecht und selbständig

Erfunden hat das Roma-Geburtsrad der 53jährige Liestaler Paul Degen, Designer, Bildhauer, Grafiker und Maler. Nach einer Rückenoperation war er wochenlang teilweise gelähmt und musste passiv in Rückenlage ausharren. Er konnte sich weder drehen noch aufrichten und war völlig auf die Hilfe anderer angewesen. Genau so gefangen und unbeweglich muss sich eine Gebärende fühlen, stellte Degen sich damals vor. Noch während er ans Bett gefesselt war, suchte er nach einer Lösung und machte Pläne. Kaum wieder auf den Beinen, konstruierte er aus Altmetall, Holz und Seilen den Prototyp des Roma-Geburtsrades. Die neue Erfindung wurde in der eigenen Familie erprobt: Als erstes Kind ist Degens Tochter auf einem Roma-Rad geboren. Die Eltern gaben ihr den Namen Roma, und nach ihr wurde das Rad benannt.

In den letzten zwei Jahren wurden 75 Geburtsräder in der Schweiz und in Deutschland verkauft. Michael Bischof von der Roma Birth AG in Liestal vertreibt die Erfindung, die rund 40 000 Franken kostet. Zurzeit bieten 17 Schweizer Spitäler das Roma-Geburtsrad für die Entbindung an.

Altdorf, Kantonsspital; Basel, Universitäts-Frauenklinik und Josephsklinik; Bern, Engeriedspital; Faido, Ospedale distrettuale; Frauenfeld, Kantonsspital; Freiburg, Kantonsspital; Ilanz, Regionalspital Surselva; Laufenburg, Regionalspital; Liestal, Kantonsspital; Porrentruy, Regionalspital; Riggisberg, Bezirksspital; Rorschach, Kantonales Spital; Samedan, Kreisspital Oberengadin; Winterthur, Kantonsspital und Krankenhaus am Lindberg; Vevey, Hôpital de Zone de Vevey.

Modeblatt, 27.4.95